Von der Kunst des Zuhörens

Eine Seniorin blickt in die Ferne.

Gut zuhören geht doch ganz einfach: Ohren spitzen und den Worten des Gegenübers folgen – fertig! Oder? Ich sitze am Bett einer alten Dame. Körperlich geht es ihr wieder besser, aber kaum habe ich Platz genommen, strömen die Worte nur so aus ihr heraus.

Ihr Mann sei vor einem Jahr gestorben, die Kinder wohnten weit verstreut, niemand habe Zeit für sie und lange im eigenen Haus bleiben werde sie nicht mehr können. Ich schaue sie während der ganzen Zeit aufmerksam an, nicke, lächle, neige mich ab und zu etwas nach vorne, um ihr näher zu sein.

In der Kommunikationslehre spricht man vom „aktiven Zuhören“. Ich höre nicht nur Worte, sondern begegne meinem Gegenüber ganzheitlich, das heißt, ich
nehme ihn mit seinem Gesichtsausdruck, seiner Körpersprache, seinen verbalen und nonverbalen Informationen wahr und versuche, die Unter- und Zwischentöne mitzubekommen. Voraussetzung dafür ist, sich Zeit zu nehmen, auch ein Schweigen auszuhalten, dem Gesprächspartner mit Geduld, Empathie, Akzeptanz
gegenüberzutreten.

Wenn ich einem Menschen begegne, der sucht, fragt, hadert, zweifelt, der erschüttert, traurig oder wütend ist, braucht er zunächst ein offenes Ohr und erst dann eine behutsame Reaktion meinerseits. Zuhören ist also nicht nur „Ohren spitzen und fertig“, sondern viel mehr! Bei der alten Dame habe ich gespürt, dass es wichtig war, ihr zu signalisieren: Ich bin in diesem Moment ganz bei dir, was du mir erzählst, ist mir wichtig – DU bist mir wichtig.

Hier sehe ich mich in der Nachfolge Jesu, der sich immer für den Menschen mit all seinen Facetten interessiert hat und ihm stets wertschätzend und liebevoll begegnet ist. Ja, Zuhören ist eine hohe Kunst!

Diesen Artikel verfasste:
Seelsorgerin
Judith Welbers
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