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Im Interview: Katholisches Alten- und Pflegehilfenetzwerk am Niederrhein (KAN)
„Corona-Regeln an der Realität vorbei“

So viel Normalität wie möglich: Altenpflegerin Janina Hau und Johanna Bücker im Josefshaus Pfalzdorf.

(02.09.2022) Das Bundeskabinett hat den Rahmen für Corona-Schutzmaßnahmen ab Oktober 2022 beschlossen, der Bundestag berät dazu am 8. September. In Altenpflegeeinrichtungen sollen weiterhin viele und strenge Regeln gelten. Die Einrichtungen müssen zeitintensive Maßnahmen zum Infektionsschutz wie Einlasskontrollen, Zertifikatskontrollen und Dokumentationen weiterhin umsetzen. Bis Juni 2022 konnten Pflegeeinrichtungen die Aufwendungen über den Pflegerettungsschirm geltend machen. Das ist nun nicht mehr möglich.

„Diese Regeln und Maßnahmen gehen an der Realität vorbei, orientieren sich nicht an unserem Alltag“, sagen die Verantwortlichen des Katholischen Alten- und Pflegehilfenetzwerkes am Niederrhein (KAN). „Im Gegenteil: Sie verschlechtern die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Bewohnern und Mitarbeitern.“

Alexander Noack ist Geschäftsbereichsleiter im Katholischen Alten- und Pflegehilfenetzwerk am Niederrhein und Geschäftsführer der Franziskus GmbH Kleve. Jörg Matenaers leitet das Josefshaus in Goch-Pfalzdorf und ist stellv. Geschäftsbereichsleiter. Im Gespräch erläutern sie ihren Blick auf den politischen Umgang mit der Corona-Pandemie.

Wie erleben Sie die Corona-Pandemie in den Einrichtungen der Altenpflege?

Die Herausforderungen und Probleme haben sich massiv verstärkt. Wir sind nach über zweieinhalb Jahren Pandemie am Ende unserer Möglichkeiten. Die pandemiebedingten zusätzlichen Aufgaben und der hohe Personalausfall sind immer schwieriger zu kompensieren, die Reserven sind aufgebraucht. Unter dem Strich leidet die Versorgungsqualität, Lebens- und Arbeitsbedingungen von Bewohnern und Mitarbeitern verschlechtern sich.

Sie kritisieren die besonders strengen Regeln für die Altenpflegeeinrichtungen. Aber: Ein besonderer Schutz scheint doch gerade dort sinnvoll?

Alexander Noack: Es ist doch paradox: Im öffentlichen Raum sind die Masken gefallen, Testungen gehen zurück. Und man glaubt, die vulnerablen Gruppen durch begrenzte Schutzmaßnahmen in den Pflegeinrichtungen schützen zu können. Unsere Erfahrung ist: Das kann nicht funktionieren.

Jörg Matenaers: Nach großen Events – nehmen Sie eine Kirmes oder ein Schützenfest - steigen die Covid-19- Infektionszahlen. Das führt auch zu steigenden Inzidenzen unter den Pflegekräften. Denn wir leben – ebenso wie unsere Bewohner - nicht auf einer Insel, nicht unter einer schützenden Käseglocke.

Alexander Noack.

Was und wie prägt die Pandemie ihre in Ihren Einrichtungen?

Alexander Noack: Ganz klar: Es sind nicht die Infektionen der Bewohner. Fast alle sind geimpft, geboostert und haben deshalb glücklicherweise milde Verläufe. Es sind die extrem hohen Personalausfälle durch lange Quarantänezeiten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind am Ende ihrer Kräfte. Ständige Dienstplanänderungen zermürben die Teams und führen zum Burn-Out der Pflege- und Betreuungskräfte. Die Situation betrifft die stationäre wie ambulante Pflege gleichermaßen. Wir erleben derzeit auch, dass erfahrene Fachkräfte das Handtuch werfen und die Altenhilfe ganz verlassen. Man kann die Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen kaum genug wertschätzen. Sie machen unter schwierigen Bedingungen einen tollen Job! Aber 1000 „Danke“ helfen ihnen und uns auf Dauer nicht weiter.

Jörg Matenaers: Unser Eindruck ist, dass das Bewusstsein für die brenzlige Situation in der Altenhilfe fehlt. Ich überspitze mal: Wenn der Urlaubsflieger nicht startet, wenn man in überfüllten Zügen keinen Sitzplatz findet… dann ist die Empörung groß. Ganz Deutschland schaut hin und die Politik bemüht sich um pragmatische Lösungen. Uns sieht man nicht.

Können Sie die Versorgung denn noch sicherstellen?

Alexander Noack: Wir sind zum Glück personell noch gut vergleichsweise besetzt. Wir haben eine sehr hohe Fachkraftquote, haben wegen vergleichsweise guter Arbeitsbedingungen viele loyale Mitarbeiter. Und wir können wegen der Vielzahl unserer Einrichtungen flexibler disponieren. Aber das System macht uns alle mürbe, die Bedingungen sind auf Dauer nicht tragbar. Wir verlieren unter Umständen Mitarbeiter, die ihre Arbeit eigentlich lieben. Und wir haben zunehmend Probleme, Auszubildende zu finden. Der gut ausgebildete Nachwuchs – eigentlich eine unserer Stärken – tut sich schwer, sich für die Altenpflege zu entscheiden. Ich kann das in Teilen auch verstehen, aber ich möchte mich damit nicht abfinden.

Was fordern Sie von der Politik?

Alexander Noack: Durch die Pandemie wurden den Pflegeeinrichtungen immer mehr zusätzliche Aufgaben übertragen. Die Einrichtungen haben sich diesen Aufgaben auch gestellt und übernehmen viel Verantwortung: Meldungen an das RKI, ans Gesundheitsamt. Ständige Arbeitsunterbrechungen, um Besucher zu testen oder zu kontrollieren. Pandemiekonzepte, Hygienekonzepte, Besuchskonzepte, Testkonzepte, Impfkonzepte… das alles muss erledigt werden - und zwar neben einer Arbeit, die sowieso alles abverlangt Entbürokratisierung findet trotz gegenteiliger Ankündigungen nicht statt, die finanzielle Unterstützung ist ausgelaufen.

Oberstes Ziel muss es sein, arbeitsfähig zu bleiben. Wir tragen die Verantwortung für die uns anvertrauten Menschen. Und wir können nicht – wie etwa ein Krankenhaus – bei Personalmangel eine Station schließen. Daher darf es keine weiteren Vorgaben geben, die zu zusätzlichen Belastungen führen.

Jörg Matenaers.

Das klingt dramatisch. Welche Vorschläge machen Sie konkret?

Alexander Noack: Es braucht eine gesamtgesellschaftliche und politisch geförderte Solidarität gegenüber vulnerablen Personengruppen. Testen, Impfen und Maske – das sollte für alle oder keinen gelten. Es macht keinen Sinn, diesen Schutzschild nur in den stationären, teilstationären oder ambulanten Pflegeeinrichtungen hochzuhalten. Das ist eine Scheinsicherheit, die brauchen wir nicht. Wir brauchen für unsere Arbeit das Gegenteil: Eine größtmögliche Normalität, bestmögliches Miteinander, so wenig Einschränkungen wie eben möglich.

Jörg Matenaers: Unsere Bewohner brauchen im Herbst prioritäre und mobile Impfangebote. Mitarbeitende müssen bei den prioritären Impfangeboten mit den neuen Impfstoffen ab Oktober berücksichtigt werden. Meldepflichten sollten auf das Notwendigste beschränkt werden. Meint: Man meldet, wenn sich etwas Grundlegendes dramatisch verändert. Und nicht, weil man eben jedes Detail um des Meldens Willen meldet.

Alexander Noack: Mitarbeitende können sich vor Dienstbeginn selbst testen und sorgen so für eine sicherere Umgebung in der Pflegeeinrichtung. Besucher werden verpflichtet, getestet zu kommen. Parallel werden individuell für einige Stunden Testmöglichkeiten in der Einrichtung angeboten Testzentren müssen wieder flächendeckend aufgebaut werden, am besten in der Nähe von Gesundheitseinrichtungen. Die Kontrollpflichten der Einrichtungen müssen erleichtert werden, etwa durch testierte Selbstauskünfte der Besucher. Wir müssen mit allen Mitteln sicherstellen, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner uneingeschränkt Besuch empfangen können. Eine Isolation wie im Lockdown möchte in unseren Einrichtungen niemand mehr erleben. Das würden wir – Mitarbeitende wie Bewohner – kaum überstehen.

Katholisches Alten- und Pflegehilfenetzwerk am Niederrhein

Unter dem Dach des Katholischen Alten- und Pflegehilfenetzwerkes am Niederrhein (KAN) versammeln sich mehr als 20 Pflegeeinrichtungen und Wohnanlagen für Senioren in den Kreisen Kleve und Wesel, dazu ein Pflegezentrum zur ambulanten Betreuung und ein stationäres und ein ambulantes Hospiz. Die mehr als 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legen Wert auf eine ebenso menschliche wie professionelle Pflege, soziale Begleitung und – in Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern und Hausärzten in der Region – auf eine bestmögliche medizinische Versorgung.